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Kommentar

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Beitrag vom 21.12.2005
Betreff: "Globalisierung + Senkung Binnennachfrage"
Von: Kai Lorenz
E-mail: kai.lorenz@berlin.de


Sehr geehrter Herr Flassbeck,

mit großem Vergnügen verfolge ich seit einiger Zeit Ihre Veröffentlichungen, die vieles von dem, was ein interessierter Laie ahnt, sachlich bestätigen und en detail entwickeln. Daß ohne ausgeglichene Partizipation der sog. Arbeitnehmer am Warenkreislauf eine Wirtschaft beeinträchtigt werden muß, die den überwiegenden Teil (60%? - 70%?) des BIP im Endkonsum auf dem Binnenmarkt realisiert, liegt auf der Hand.

Gegen allzu glatte Rechnungen mißtrauisch, frage ich aber nun, ob wir nicht durch tatsächlich ablaufende Basisprozesse der ungenau und mystifizierend "Globalisierung" genannten Entwicklung einige bedeutende Verschiebungen der Rahmenbedingungen erfahren. Könnte es nämlich sein, daß durch die enorm aufholende Industrialisierung in den sog. Schwellenländern ein Schwergewicht auf der Nachfrage nach Investitionsgütern entstanden ist? Das meint, nach meiner ungelehrten Erwartung, die Möglichkeit, daß vielleicht größere Unternehmen in entsprechenden Branchen ein vordringliches Interesse haben könnten, statt für 'privaten' Konsum zu produzieren, den Versuch zu unternehmen, in einem sich erweiternden Markt für Investitionsgüter größere Anteile zu gewinnen. Gesetzt, dies wäre der Fall, könnte es doch wohl durchaus sein, daß ein wirtschaftlicher Sinn darin liegt, die Arbeit"nehmer" in den hochentwickelten Ländern in der Verfügung über Lebenschancen zu beschränken, indem man Löhne senkt. Die Unternehmer würden einerseits wieder Mittel des "ökonomischen Zwangs" gewinnen, die Verfügung über Arbeitskräfte zu erleichtern, und andrerseits wäre der Verlust von Binnenabsatz zu verschmerzen, wenn die intensivierte Vernutzung menschlicher Arbeitskraft durch Investitionsgüterproduktion mehr Gewinne erbringt als bei Verbrauchgüterproduktion beeinträchtigt wird.

Das wäre sogar gesamtwirtschaftlich sinnvoll. Daß es auf kurze Sicht, für unser Alltagsleben, wünschenswert, oder daß es blind naturwüchsig ablaufend, also politisch unbeeinflußbar sei, will ich damit nicht unterstellen - nicht einmal, daß es auf lange Sicht ökonomisch sinnvoll sei, die Arbeitenden eher zu nötigen als durch Aufklärung und Partizipation zu motivieren -; mich interessiert hier vordringlich die rein ökonomische Logik: wenn die Konzentration der exportorientierten Volkswirtschaften auf Investitionsgüterproduktion in toto höhere Rendite verspräche als Verbrauchsgüterproduktion, müßte der neoliberale Kurs ökonomische Rationalität für sich beanspruchen können - selbst wenn seine Propagandisten darüber selbst nicht Bescheid wüßten. Dann wäre die Steigerung des Exportanteils am BIP auf z. B. 22% (ich habe hier keine exakten, dafür viele verschiedene Angaben gelesen) erst ein Anzeichen für etwas, das in seiner vollen Breite noch bevorsteht; und nur kurzfristig bestimmt von einem Übergewicht des Investitionsgüteraustauschs. Im Hintergrund meiner Frage steht der Eindruck (nur ein Eindruck, kein Wissen), daß die aufstrebenden Nationen oder Wirtschaftsregionen überdurchschnittliche Zuwächse im Bereich der Investitionsgüter haben und der private Konsum der Mehrheit in den hochindustrialisierten Regionen so lange stagnieren oder gar zurückgehen muß, bis es ein gemeinsames Niveau mit dem der nachholenden Regionen gibt - ein neues Minimalniveau, von dem aus höhere Anteile an der Rendite durch soziale Bewegungen erkämpft oder durch weitblickende Kapitaleigner gewährt werden müßten; im letzten natürlich wieder durch den Mechanismus, dessen Beachtung Sie schon für hier und heute einfordern: die wachsende Bedeutung des privaten Verbrauchs für die Volkswirtschaften insgesamt.

Daß relativ einfache Produkte, nicht Mittel zur Befriedigung verfeinerter Konsumentenbedürfnisse, Konjunktur haben, deutet sich mir z. B. darin an, wie die chinesische Nachfrage nach Eisen die Schrottpreise in die Höhe jagt und die Nachfrage nach Steinkohle sogar die seit Jahrzehnten unrentable deutsche Kohleförderung wieder ökonomisch sinnvoll werden zu lassen scheint. Der relative Rückschritt im Lebensstandard der Mehrheit in den Industrieländern wäre dann mit der relativen Rückständigkeit in der Nachfragestruktur des Investitionsgütermarktes und höherer Renditen in ihm erklärbar. Entscheidend für die Beurteilung der hier angedeuteten Überlegungen wird wohl die faktische Mischung der Produkttypen und ihrer Anteile auf den internationalen Gütermärkten sein. Vielleicht liege ich schon mit der Vermutung falsch, die heute nachholenden Wirtschaftsregionen erzeugten gesteigerte Nachfrage a) nach Investitionsgütern und b) nach Investitionsgütern, die mehr einfache Arbeit zu ihrer Produktion erfordern als es bisher im Handel unter den entwickelten Volkswirtschaften der Fall war? Vielleicht liege ich richtig, wenn ich annehme, daß das von mir vermutete Ungleichgewicht aktuell und drückend ist, aber über nur 20,30, 40 Jahre existieren wird - bis der letzte Winkel des Globus weltweit Produkte absetzt, modern industrialisiert und mit allen Kapitalmärkten verflochten ist und für alle Konsumenten ein durchschnittlich gleiches Angebot an Gütern hat? Vielleicht aber ist weder richtig noch falsch, was ich hier voraussetzte?

Was erklären, was raten Sie, um hier zu Einsichten zu kommen?

Mit freundlichen Grüßen

Kai Lorenz